#2 Das Video und der Unfall
Manchmal muss man im Leben einen absoluten Tiefpunkt erleben, um eine darauf basierend eine Veränderung einzuleiten. In solchen Momenten scheint so es, als könne man nicht mehr tiefer fallen. In diesem Beitrag schreibe ich über einen Tiefpunkt meines Lebens, der eine große Veränderung auslöste. Auch wenn mit all meinem heutigen Wissen in die Vergangenheit zurückreisen und mich warnen könnte, so würde ich es auf keinen Fall tun. Ich würde es einfach ganz genauso geschehen lassen. Also… Auf geht’s!
Es war das letzte Semester meines Bachelorstudiums. An den Zyklus von aufstehen, lernen, arbeiten und schlafen gewöhnt hatte ich mich gewöhnt. Ich funktionierte haupfsächlich aus meiner eigenen Sturheit heraus. Mir fehlte lediglich eine einzige Prüfung und die Abschlussarbeit. Die Abschlussarbeit schrieb ich am dem Forschungsinstitut, in dem ich arbeitete; im Nachhinein betrachtet war das Thema furchtbar öde, jedoch konzentrierte ich mich damals lediglich darauf, den Abschluss zu erlangen.
Ich fühlte noch immer diese innere Leere[1]Etwas früher heute wurde mir klar, dass ein Metallica-Konzert im Jahr 2008 einer der emotional intensivsten Momente dieser Zeit war. Nach etwa einer Stunde spielten sie Fade to Black, eines meiner … Continue reading, die im letzten Beitrag beschrieben wurde, aber dachte, das müsse ein Teil von allem sein – als wäre es eben normal. Meine primäre Bewältigungsstrategie war Sturheit: viel Arbeit sowie der Glaube, dass der Lauf der Dinge genauso ist, wie er auch sein sollte.
In dieser Zeit versuche ich immer wieder kleine „Pausen“ zu machen. Pausen, die notwendig sind, um Verschiedenstes am Laufen zu halten, wie beispielsweise etwas essen oder einkaufen. Im Nachhinein betrachtet waren das keine echten „Pausen“. Mir rasten häufig oft allerart Gedanken durch meinen Kopf, so wirklich zur Ruhe kam ich selten. Während einer dieser „Pausen“ stieß ich auf ein YouTube-Video, in dem ein Amerikaner vor verschiedenen Wahrzeichen der Welt tanzte. Vielleicht kennst du es ja, es heißt „Where the Hell is Matt?“. Damals gab es drei Videos (2005, 2006, und 2008). Auch heute noch schaue ich mir diese Videos noch gerne an, weil sie Freude auf eine einzigartige Art und Weise ausstrahlen. Damals löste das Anschauen dieser Videos eine unglaubliche Sehnsucht in mir aus.
Matt, der Schöpfer der Videos, hatte eine Website, wo ich seinen Newsletter abonnierte. Kurze Zeit später erhielt ich eine E-Mail: „Where the hell is Matt is coming to Dresden“. Es war eine Einladung zur Teilnahme an seinem neuen Tanzvideo für 2012. Irgendwie hatte ich Lust zu dem Event zu fahren, Ich wollte mitmachen, allerdings war Dresden einerseits über 500 Kilometer von meinem Wohnort entfernt und mein Budget für eine solche Reise war andererseits extrem knapp. Trotzdem blieb die Idee in meinem Kopf hängen. Ich hatte gerade die letzte Prüfung der 58 Leistungspunkte hinter mir und dachte, ich hätte eine Pause verdient.
Mein damaliger Freund war von der Idee nicht wirklich überzeugt. Alle anderen meinten, ich sei völlig verrückt. Trotzdem musste ich einfach nach Dresden. Also suchte nach einer Mitfahrgelegenheit und couchsurfte zum ersten Mal[2]Der Couchsurfer war ein Freund eines Freundes, der bei Couchsurfing war. Couchsurfing wollte ich schon lange mal ausprobieren, aber ich hatte irgendwie meine Bedenken diesbezüglich. Ein paar Tage später begann mein Ausflug mit einer 500 km langen Fahrt im Auto eines Bundeswehrsoldaten, der einst in Afghanistan stationiert war[3]Die aktuelle Situation in Afghanistan und der Ausgang des Krieges, rückt alles nochmal in ein ganz anderes Licht.. Angekommen in Dresden zeigte mir das Couchsurfer die Stadt und nahm mich auf eine Party mit.
Am nächsten Tag ging ich zur Frauenkirche in Dresden – dem Treffpunkt für die Tanzveranstaltung. Ich tue mir schwer abzuschätzen, wie viele Leute exakt dort waren, aber es waren schon eine ganze Menge. Matt war sich nicht sicher, ob wir in Bayern sind[4]Für diejenigen, die es nicht wissen, Dresden liegt in Sachsen.. Ich hatte eine Menge Spaß, aber es war, wie so oft, viel früher vorbei als erwartet. Daher musste ich nach dem Event noch ein paar Stunden Zeit totschlagen bis die nächste Fahrgemeinschaft in Richtung Jena losfuhr. Dort wollte ich eine Freundin besuchen. Folglich hatte ich Zeit und die Gelegenheit, mich mit Matt über Reisen und Träume, aber auch über Ängste und Auszeiten zu unterhalten. Am Ende – ich weiß gar nicht mehr, warum – bat ich ihn, eine Notiz in mein Notizbuch zu schreiben. Bis heute habe ich immer ein kleines Notizbuch bei mir. Matt schrieb: „Travel somewhere strange and exotic that you don’t know anything about. I command you! -Matt„.
Am nächsten Tag saß ich neun Stunden lang in einem Bummelzug[5]Ich liebe Züge bis heute und habe gerade gemerkt, dass meine wahre Leidenschaft damals, in diesem Moment, begann. irgendwo zwischen Jena und meiner Heimatstadt. Ich starrte auf Matts Nachricht. Travel somewhere strange and exotic that you don’t know anything about. Wo mag das sein? Nach einer langen Zeit der Leere war das erste, was ich spürte Angst: Ich stellte mir vor, wie ich als Großmutter in einem hölzernen Schaukelstuhl in einem Atlas blätterte. Ich schaute mir die Karten vieler Länder an und erkannte, dass es zu spät war. Ich bin zu alt, um zu reisen, aber ich hatte eine großartige Karriere. Ich war entsetzt. Und plötzlich … stelle ich alles in Frage: Warum studiere ich eigentlich? Wollte ich überhaupt jemals studieren? Wo sind denn all meine Träume geblieben? Die Träume, die Welt mit dem Zug zu erkunden, herauszufinden, wie Orte riechen und sich „anfühlen“, die Welt mit eigenen Augen zu sehen? Wo ist das alles hin? Ich hatte das drängende Bedürfnis dieses beklemmende Gefühl auszuschalten. Ich wusste einfach gar nichts mehr und starrte weiter auf die Nachricht. … somewhere strange and exotic that you don’t know anything about. Kambodscha! Ich wollte doch schon immer einmal nach Kambodscha reisen und Angkor Wat sehen. Das war ein Traum, den ich seit Jahren hatte. Ein Ort, an den ich immer wollte, seitdem ich wusste, dass er existiert. Und als ich nach neun Stunden aus dem Zug „fiel“, sagte ich zu mir selbst: Ich fahre nach Kambodscha. Obwohl ich anfing, Reisen nach Kambodscha (inkl. Vietnam und Thailand) zu recherchieren, ließ der Stress nicht nach, und der Plan verlor an Priorität.
In dieser Zeit machte ich ebenfalls viel Sport. Das half zwar gegen den Stress, aber Sport und Stress gehen nicht immer Hand in Hand. Daher hatte ich etwa zwei Monate nach der Tanzveranstaltung einen Unfall. Ich machte einen coolen Matrix-ähnlichen Salto auf einer Airtrackbahn, rutschte bereits beim Absprung aus und spürte ein ekelhaftes Knacken bei der Landung. Als ich nach unten schaute, schien mein linkes Bein seitlich abgeknickt zu sein, in eine vollkommen falsche Richtung. Meine Kniescheibe hing an der Außenseite meines Knies. Ich geriet in Panik. Einige Leute und Sanitäter kamen. Jemand rief einen Krankenwagen. Aus irgendeinem Grund, den ich immer noch nicht so ganz begreife, wollten die Sanitäter mich bewegen und mein Bein begradigen. Dabei rutschte die Kniescheibe wieder an ihren Ursprungsort, was höllisch weh tat. Um ein wenig vorzuspulen: Ich hatte Glück! Es war nichts gebrochen, aber das habe ich erst deutlich nach dem Unfall herausgefunden, weil ich auf ein MRT warten musste. Bis dahin war ich zu Hause mit Krücken, einer Schiene und der Anweisung, mein Bein auf gar keinen Fall zu belasten, was es so gut wie unmöglich machte, meine Wohnung zu verlassen. Ich konnte nicht arbeiten, auch nicht an der Bachelorarbeit, denn dafür brauchte ich Zugang zu einem Computer-Cluster im Forschungsinstitut. Anfangs „betäubte“ ich mich mit Besuchen von Freunden, Telefonaten, Streaming, Lesen, Podcasts hören… aber irgendwann gab es nichts mehr zu hören und niemanden[6]ich erwähnte oben zwar meinen damaligen Freund, aber das war nicht von Dauer; wir trennten uns kurz nach der Tanzveranstaltung, mit dem ich reden konnte. Ich war mit mir selbst konfrontiert.
Also verbrachte ich viel Zeit im Bett und starrte unter Schmerzen meine Zimmerdecke an. Ich wollte einfach nur fliehen oder weglaufen. Vor mir, meiner Umgebung, dieser blöden Verletzung, meiner Arbeit, der Universität, meinen Karriereplänen und allem anderen. Es war nicht mehr nur Sehnsucht, es war ein Drang zur Flucht – ein tiefes und starkes Verlangen. Ich erinnerte mich an diesen Moment im Zug, an mich selbst als Oma im hölzernen Schaukelstuhl, und an all die Fragen, die mir durch den Kopf rasten. Warum studiere ich überhaupt? Nach dem Abitur hatte ich eine zweiwöchige Pause und ging dann zur Universität. Das ist das, was man tun sollte. Das wird von mir erwartet. Aber warum habe ich das getan? Ich wusste es nicht, oder ich wusste es nicht mehr. Ich konnte keine Frage beantworten. Mein Kopf war leergefegt. Warum studierte Informatik und Mathe? Warum habe ich mir eigentlich diesen ganzen Stress mit den 58 Leistungspunkten angetan? Verdammt, wer war ich? Ich wusste es nicht mehr.
Sehr plötzlich manisfestierte sich ein Gedanke in meinem Kopf: Wo ist das kleine Mädchen hin, das immer Tempel im Dschungel sehen, in einem Zug schlafen, die Sterne in der Wüste anschauen wollte (als Kind dachte ich, dass die Wüste die besten Sterne haben muss, weil dort niemand lebt und es keine Lichtquellen geben sollte), und so vieles mehr. Ich wollte doch so gerne mal in ein Taxi steigen und einfach nur „Folgen Sie dem Wagen!“ rufen, unter einem Wasserfall stehen oder hoch oben in den Bergen in einer Wolke sein. Ich hatte so viele Träume, wo waren sie nur geblieben? Irgendwie habe ich sie vergessen, so wie Robin Williams in dem Film Hook, der vergaß, dass er eigentlich Peter Pan ist. (Ich liebe diesen Film, auch wenn er amerikanischer Weihnachtskommerz ist).
Es war so, als sei ich nur noch ein Schatten. Im Gegensatz zu Peter Pan konnte und wollte ich ihm nicht nachjagen. Ich fühlte mich so leer und unauthentisch, als hätte ich mich durchgehend selbst belogen. Der ganze Stress, das Streben nach einer Karriere, das Streben nach genau dieser speziellen Karriere, das war einfach nicht ich. Ich wusste nur eines: So konnte ich nicht weitermachen. Um das zu wissen, brauchte ich tagelange Blicke an die Zimmerdecke. Irgendwann nahm ich mir ein Stück Papier und schrieb alles auf, was ich schon immer mal machen wollte: eine Art To-Do-Liste für mein Leben. Der größte Teil bestand darin, verschiedenste Orte auf der Welt zu erkunden. Als ich das aufschrieb, traf ich eine Entscheidung.
Ich dachte: Scheiß auf den Master, scheiß auf die Uni, ich werde jetzt jeden Cent zusammenkratzen, den ich irgendwie auftreiben kann. Ich werde irgendwie diese blöde und wahnsinnig langweilige Bachelorarbeit beenden, aus dieser Mini-Wohnung ausziehen, mein ganzes Zeug verkaufen und alles hinter mir lassen! Ich werde nach Osten reisen und aus dem Westen zurückkommen, ich reise um die ganze Welt! Ganz allein. Ich tue es! Ich tue es wirklich, denn wenn ich es jetzt nicht tue, werde ich es nie tun. (Wirkt auf mich gerade irgendwie größenwahnsinnig).
Obwohl ich wegen der Verletzung ans Bett gefesselt war und zuerst mein Studium beenden wollte – aufgeben wäre zu diesem Zeitpunkt ziemlich dumm gewesen – änderte sich an diesem Tag etwas. Plötzlich hatte ich ein Ziel, mein Ziel, etwas, das für mich richtig war. Etwas, das ich schon immer machen wollte. Mit meinen Krücken humpelte ich über den Weihnachtsmarkt und kaufte einen Ring. Darin ließ ich die folgenden Worte eingravieren: Don’t Panic! Bis heute trage ich – mit Ausnahme von drei Monaten im Jahr 2015 – diesen Ring immer bei mir. Es mag ein bisschen albern erscheinen, aber irgendwie wollte ich ein materielles Symbol für diese Veränderung. Aber eine Entscheidung zu treffen und einen Ring zu kaufen, reicht nicht aus, um die Welt zu bereisen.
Das war vor fast zehn Jahren, und so lange hat es gedauert, bis ich loslassen konnte. Das Reisen hat meine Probleme nicht gelöst, es hat nur meine Sichtweise und meinen Umgang mit ihnen verändert. Heute kämpfe ich immer noch mit Erwartungen, aber weniger als früher. In diesem Blog erzähle ich, was zwischen dem Unfall und heute passiert ist – die Puzzleteile, die nötig waren, um mich zu der Person zu machen, die ich heute bin. Ich bin zufrieden mit meinem Job, ich mir vieler meiner Unsicherheiten bewusst und akzeptiere sie genauso wie Rückschläge, Fehler und negative Erfahrungen. Wie bereits zuvor geschrieben, Dunkelheit gehört im Leben dazu, denn ohne sie gibt es gar kein Licht.
Danke für deine Zeit, in der du diesen Artikel gelesen hast. Der Unfall hat mein tägliches Leben damals ziemlich auseinandergerissen, aber das Warten auf den MRT-Termin war das letzte Glied in einer Ereigniskette, die ich brauchte, um, nun ja… aufzuwachen. Damals funktionierte ich nur noch gedankenlos und wusste gar nichts mehr. Im nächsten Beitrag werde ich über die Planung meiner Reise und meine letzten Tage zu Hause schreiben, die sicher nicht einfach waren.
Ich möchte diesen Beitrag wie alle anderen Beiträge mit den Worten beenden, die in meinem Ring eingraviert sind: Don’t panic!
P.S.: Habt ihr auch schon solche einschneidenden Ereignisse erlebt, die ihr mit uns teilen wollt? Lasst es uns in den Kommentaren wissen.
References
↑1 | Etwas früher heute wurde mir klar, dass ein Metallica-Konzert im Jahr 2008 einer der emotional intensivsten Momente dieser Zeit war. Nach etwa einer Stunde spielten sie Fade to Black, eines meiner Lieblingsstücke, weil ich dieses Lied oft auf meiner Gitarre spielte. Ich fragte mich, warum gerade dieser Moment so intensiv und tief war. Ich schätze der ehrliche Grund ist, dass dies einer der seltenen Momente war, in denen ich wirklich etwas fühlte. |
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↑2 | Der Couchsurfer war ein Freund eines Freundes, der bei Couchsurfing war |
↑3 | Die aktuelle Situation in Afghanistan und der Ausgang des Krieges, rückt alles nochmal in ein ganz anderes Licht. |
↑4 | Für diejenigen, die es nicht wissen, Dresden liegt in Sachsen. |
↑5 | Ich liebe Züge bis heute und habe gerade gemerkt, dass meine wahre Leidenschaft damals, in diesem Moment, begann. |
↑6 | ich erwähnte oben zwar meinen damaligen Freund, aber das war nicht von Dauer; wir trennten uns kurz nach der Tanzveranstaltung |