#7 Kälte mit Sonnenbrand am Baikalsee
Nach 78 Stunden Zufahrt war ich in aller Herrgottsfrühe in Irkutsk angekommen[1]Die Zeit in Irkutsk habe ich bereits von neun Jahren hier sehr oberflächlich verbloggt. Im Nachhinein fällt mir auf, dass ich damals nur ein Smartphone hatte, was das Bloggen echt erschwert hat.. Schlafen war sehr schwierig, denn mir fehlte die Bewegung des Zuges und ich freute mich schon auf die Weiterfahrt. Untergebracht war ich bei einer russischen Gastfamilie, die ein Reisebüro besaß. Die Tochter war in meinem Alter und sprach sogar sehr gutes Deutsch wie ihre Mutter auch. Zum allerersten Mal innerhalb der gesamten Reise hatte ich plötzlich ein Zimmer für mich alleine und Privatsphäre, die ich genießen konnte. Doch allzu viel Zeit verbrachte ich dort nicht, ich wollte nämlich etwa 70km weiter zum Baikalsee. Im Zug hatten wirklich alle anderen Reisenden bereits Touren oder Unterkünfte am Baikalsee gebucht. Als einzige wollte ich das lieber spontan organisieren. Jeder der anderen Reisenden war diesbezüglich ziemlich skeptisch.
Da war ich nun mitten in Sibirien. Es waren über 30°C, sodass ich richtig am Schwitzen war, was angesichts der Geschichten von Eis und Kälte in Sibirien ja irgendwie etwas kurios ist. Die Tochter der Gastfamilie erklärte mir den „Weg“ zum Baikalsee, genauer gesagt nach Listvyanka. Sie sagte: „Du gehst zum Markt, dort gibt es Minibusse, die fahren zum See. Steige am besten an der Haltestelle „Museum“ aus, dann kannst du von da aus am See entlang zurück laufen und von einer anderen Haltestelle zurückfahren. Das Geld für die Fahrt gibst du dem Fahrer beim Austeigen. Schau, dass du es passend hast.“ Zusätzlich gab sie mir eine Karte von Irkutsk und markierte mir allerhand wichtige Orte, sodass ich bestens vorbereitet war.
Ich ging also zum Markt und suchte nach etwas, was ich als Minibus identifizieren konnte, fand aber nur Vans mit kaputten Scheiben. Ich muss wohl ziemlich offensichtlich nach Touri ausgesehen haben, denn ein Mann kam auf mich zu und sagte „Listvyanka?“. Ich stimmte zu, wechselte ein paar Worte auf russisch mit ihm und wurde zu einem der Vans mit den kaputten Scheiben geleitet. Der Van hatte ein laminiertes Schild hinter die Scheibe geklebt mit der Aufschritt „Listvyanka“, also stieg ich ein. Innen sah es wie ein kleiner Bus aus. Für mich wurde ein Sitz hinten im Fahrzeug ausgeklappt. Ich schnallte mich an, das schien jedoch nicht allzu oft zu passieren, denn der Gurt war fest eingeklemmt, sodass ich ihn erstmal befreien musste. In diesem Moment erinnerte ich mich an die Marshrutkas (Routen-Taxis) in Moskau. Das musste die Tochter wohl mit „Minibus“ gemeint haben. Mit lautem Knallen schloßen die Türen[2]Jahre später übersetzte mir jemand die Aufschriften auf Marshrutks-Türen, die besagen „Die Tür bitte nicht zuknallen“. Außer in Lettland habe ich kein einiziges Mal erlebt, dass die … Continue reading und los ging die Fahrt. Ich kann nicht genau sagen, wie lange die Fahrt wirklich dauerte, es kam mir aber wie eine Ewigkeit vor. Das lag vor allem am Achterbahn-Fahrstil des Fahrers, der mich den Gurt wertschätzen ließ.
Aufgrund des Fahrstils achtete ich gar nicht auf die Ansagen des Fahrers und stieg am erstbesten Halt aus, wo der See zu sehen war. Da musste ich erstmal tief Luft schnappen und runterkommen. Italiener fuhren gechillt verglichen damit, was ich gerade erlebt hatte. Als mein Blick zum ersten Mal so richtig auf den See fiel, war ich überwältigt. Einerseits von dessen Größe, denn ich konnte das andere Ende nicht sehen. Andererseits von weiteren Sinneseindrücken. Auch wenn ich wusste, dass es sich um einen See handelte, so sah er aus wie das Meer, roch jedoch komplett anders. Es fehlte das Salz in der Luft. Ich lief eine Weile auf einer Mauer am See entlang und ließ meine Gedanken wandern. Ich dachte an vergangene Beziehungen, Bekanntschaften und Menschen, die mir (immernoch) wirklich wichtig waren. Damals rückte der ganze Alltagsstress langsam aber sicher in die Ferne. Weit und breit war niemand, der mir eine Meinung hätte „vorgeben“ können. So kam ich plötzlich auf andere Gedanken als sonst. Beziehungen war ich ja schon irgendwie komisch angegangen, gerade meine vorletzte. Ich war immer so unentspannt gewesen, weil ich eine Art Checkliste abarbeitete. Dabei ging es vorwiegend um „gesellschaftliche Vorschriften“, wie Beziehungen zu sein hatten in Punkto Interessen der Partner, dem Umgang miteinander, … bis hin zu Altersunterschieden. Mein Ex-Freund, den ich Moskau verabschiedet hatte, war neun Jahre älter als ich. Vielleicht werde ich irgendwann mal mehr Einblicke geben, für den Moment jedoch will ich es darauf beschränken, dass ich Beziehungen als eine Art fest definiertes Konstrukt sah, indem die Partner bestimmte Kriterien erfüllen mussten. Auch den Weg bzw. Werdegang einer Beziehung sah ich als vorgegeben, weshalb es logische Schritte gab, die einfach jeder Mal gehen musste: Daten, gemeinsame Zeit, Zusammenziehen, Heiraten, Kinder,… Auf der Mauer war ich mir dieser festen Definitionen jedoch nicht mehr ganz so sicher. Beziehungen sind doch letztes Endes und idealerweise genau das, was das jeweilige Paar daraus machen möchte. Folglich sollte doch jedes Paar für sich selbst entscheiden, welche Ziele es gemeinsam verfolgen möchte. Ich hingegen ließ mich oft von außen durch Erwartungen oder auch von innen durch meine Partner in eine bestimmte Richtung treiben, solange bis ich es jeweils in der Beziehung nicht mehr aushielt.
Auch wenn ich diese Mauer im Nachhinein sogar die „Mauer der Erkenntnis“ nannte, so hat sich über die Reise hinweg und in den Jahren darauf meine Meinung über Beziehungen weiter sehr einschneidend verändert. Heute sehe ich „die Mauer“ lediglich Startschuss aus dem Beziehungskonstrukt der Gesellschaft etwas individuelles machen zu wollen. Dabei meine ich allerdings nicht alleinig Liebesbeziehungen, sondern jegliche Art Beziehung wie Freundschaften, Arbeitsbeziehungen und sogar Relationen zu Tätigkeiten und Hobbies. Jegliche Art von Beziehung kann in den Sog von Erwartungen und Abhängigkeiten geraten und im schlimmsten Fall sogar Toxizität auslösen. So aufgeschrieben klingt das so, als könne man die gesellschaftlichen oder auch persönlichen Konstrukte aufweichen und es schaffen mit sich selbst glücklich zu sein. Leider ist das Leben nicht so, es ist wie in Teil 1 beschrieben ein stetiger Wechsel. Es wird daher in jeder Beziehung auch schlechte Zeiten und Tiefs geben. Der wichtige Frage hierbei ist also gar nicht, wer oder was einen glücklich macht und strahlen lässt, sondern vielmehr für wen oder was man bereit ist Tiefs zu durchlaufen und dadurch letzten Endes zu leiden. Aber Achtung: Das heißt natürlich nicht, dass ein Beziehung ein nie-endendes Tief sein muss. Damals beim „Gedankenwandern“ schaute ich fast ausschließlich den See an und hörte den Wellen zu. Irgendwie „musste“ ich meine Füße mal ins Wasser tauchen. Ähnlich zu vielen Spaziergängen am Meer hatte ich das drängende Bedürfnis im Wasser zu spazieren. Immerhin war es heiß und die Sonne knallte zwischendurch immer wieder zwischen den Wolken hervor, meine Schultern waren sogar schon gerötet. Also zog ich meine Schuhe aus und hing sie ins Wasser. Nach etwa einer halben Minute musste ich meine Füße jedoch bereits wieder aus dem Wasser nehmen, denn der See war -sehr zu meiner Überraschung- eiskalt.
Nach einer Weile erreichte ich die von der Tochter beschriebenen Museen und eine Show mit abgerichteten Baikalrobben. Beides wurde mir empfohlen, aber irgendwie sagte mir beides gar nicht zu. Das Ziel den See -bzw. einen kleinen Teil davon- zu erkunden, hatte ich erreicht. Ein Museum fand ich irgendwie unnötig und eine Tiershow wollte ich nicht unterstützen. Das klingt jetzt alles ganz harmlos, jedoch war es für mich das erste Mal, dass ich wirklich von Empfehlungen und „Must-Sees“ abtriftete, weil ich es selbst nicht wollte. Immerhin war ich alleine und konnte so einfach entscheiden, was ich machen möchte. Anstatt also drinnen Exponate und Tiershows anzuschauen, erkundete ich lieber weiter das Ufer und Listvyanka.
Unterwegs dort fand ich einen kleinen Laden, der von einer alten Frau betrieben wurde. Hunger hatte ich ja schon, hatte aber das Bedürfnis nicht etwas in einer „Touribude“ zu essen. Die Frau hatte allerhand Kuchen, Kekse und Brote im Angebot. Allerdings war die Menge jeweils etwas zu viel für mich alleine. Irgendwie schaffte ich es ihr das mitzuteilen, so bekam ich eine auf mich angepasste Menge für wenige Rubel, die ich auf „meiner“ Mauer verspeisen konnte. Ich verschickte noch eine Postkarte mit Gedanken an mich selbst -das ist eine Tradition, die ich bis heute pflege- und machte mich dann per Achterbahnfahrt auf den Heimweg. Auch wenn ich zwischendurch meine Jacke anzog, hatte ich mir einen leichten Sonnenbrand geholt. Alles in allem kostete mich dieser Tagesausflug sechs Euro (Fahrt und Essen), vermutlich viel weniger als alle anderen Reisenden für ihre Touren gezahlt haben und gleichzeitig vollkommen frei. Zum allerersten Mal hatte ich einfach gemacht, worauf ich Lust hatte, und so sollte es hoffentlich auch in Zukunft weitergehen. Doch egal wie viel Geld dieser Ausflug kostete, so war dieser Erkenntnismoment dort spazierend auf der Mauer für mich von unschätzbarem Wert.
Don’t Panic!
References
↑1 | Die Zeit in Irkutsk habe ich bereits von neun Jahren hier sehr oberflächlich verbloggt. Im Nachhinein fällt mir auf, dass ich damals nur ein Smartphone hatte, was das Bloggen echt erschwert hat. |
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↑2 | Jahre später übersetzte mir jemand die Aufschriften auf Marshrutks-Türen, die besagen „Die Tür bitte nicht zuknallen“. Außer in Lettland habe ich kein einiziges Mal erlebt, dass die Tür nicht zugeknallt wurde. Was wohl daran lag, dass die Tür nur durch zuknallen schloss. |