#5 Wann meine Weltreise wirklich begann
Ich war bereits eine ganze Woche auf Weltreise unterwegs, aber irgendwie fühlte es sich nicht wie eine Reise an. Vermutlich lag das daran, dass ich zunächst durch Deutschland reiste und dabei Freunde besuchte. Anschließend erkundete ich mit meinem Freund die russische Hauptstadt Moskau. Moskau zu war ziemlich aufregend, ich würde sogar sagen abenteuerlich… Drei Nächte stand ich vor einem Zug, der mich nach Irkutsk über den ersten Abschnitt der Transsibirischen Eisenbahn bringen sollte. Die Zugfahrt würde insgesamt 78 Stunden dauern. Vorher musste ich aber noch etwas tun: mit meinem Freund Schluss machen. Also, los geht’s!
Mein Freund und ich kamen in aller Herrgottsfrühe auf dem Moskauer Flughafen Domodedowo (etwa 50 km vom Stadtzentrum) an. Russland war das erste Land, für das ich Reisepass und Visum benötigte. Mein Freund sprach fließend Russisch; ich konnte lediglich kyrillisch lesen und kannte die Sprache kaum. Die Kombination aus uns beiden war schon ein bisschen schräg: Er war ein sehr spontaner Mensch, und ich die (viel zu) gut organisierte Deutsche. Am Flughafen ging ich zu einem offiziell lizenzierten Geldwechsler, um Rubel zu ertauschen (2012 war die Situation mit Kreditkarten deutlich anders); er tauschte sein Geld zu einem besseren Kurs bei irgendeinem zufälligen Typen, den er am Flughafen fand. Ich schluag die Shuttle-Fahrpläne nach, noch bevor wir ins Flugzeug stiegen; er fand eine Marshrutka (Routen-Taxi), das zu einer Metrostation fuhr, vor dem Flughafenausgang. Wenn er Fremde nach dem Weg fragte, führte uns dies durch winzige Straßen, die ich niemals von mir aus erkundet hätte. Das zeigt hoffentlich die Unterschiede zwischen ihm und mir. Es zeigt jedoch auch, wie extrem ängstlich ich war. Vorbereitet zu sein half mir, damit fertig zu werden. Alles in allem war es keine gänzlich schlechte Bewältigungsstrategie: Sie half zwar bei der Grundproblematik, hielt mich jedoch auch von vielen Abenteuern ab. Deshalb bin ich meinem damaligen Freund immer noch sehr dankbar; er zeigte mir einen ganz anderen Weg auf, der in neun von zehn Fällen funktionierte. In dem Fall, in dem es nicht klappte, biss ihn ein Hund. Fragt man Russen nach dem Weg, so neigen sie dazu, in die Himmelsrichtung des Ziels zu zeigen, egal was zwischen einem und dem Ziel so alles ist. In unserem Fall waren es Schienen, einige Wohnwägen, ein wütender Hund und eine riesige Mauer.
Eine andere Odysseegeschichte handelt von der Suche nach dem Botanischen Garten in Moskau. Heutzutage wäre das mit dem Smartphone ein Kinderspiel, aber damals brauchte man entweder eine Karte oder musste jemanden fragen. Wie zu erwarten war, fragte mein Freund Einheimische. Sie wiesen uns einen unbefestigten Weg, der uns zu etwas führte, das wie ein kleiner Wald aussah. Ich war ein wenig skeptisch, dachte aber, dass mich nach dem Metro-Zwischenfall nichts mehr überraschen könnte. Ich hatte mich geirrt! Der unbefestigte Weg führte uns zu einem kleinen Fluss mit mehreren Rohren, die wie eine Brücke aussahen. Wir beschlossen, sie zu überqueren, und nur ein paar Minuten später fanden wir dann tatsächlich eine geheime Tür zum Botanischen Garten von Moskau.
Nach drei Nächten in Moskau und einer Einkaufstour in einem örtlichen Supermarkt für Vorräte brachte mich mein Freund zum Yaroslavskiy Bahnhof, der den Anfang Transsibirische Eisenbahn markiert. Rückblickend denke ich, dass wir beide insgesamt gut mit der Situation zurechtkamen. Ich war 23 Jahre alt. Als ich ihm erzählte, dass ich die Welt bereisen wollte, unterstützte er mich sehr und half mir bei allen möglichen Dingen wie Ausrüstung oder dem „Tuning“ davon. Er zeigte mir eine coole Art, die Schnürsenkel meiner Wanderschuhe zu binden. Bis zum heutigen Tag musste ich die Schuhe nie wieder neu binden! Kurz nachdem ich meine Pläne bekannt gegeben hatte, beschlossen wir beide, uns zu trennen, sobald ich weg war. Das war doch etwas seltsam, weil es der Beziehung ein Verfallsdatum gab. Wir waren uns einig, dass wir sehen würden, wie es läuft, und wieder miteinander reden, sobald ich zurück sein werde. So standen wir also spätabends vor meinem „Zuhause“ für die nächsten 78 Stunden. Wir verabschiedeten uns voneinander, und ich stieg in den Zug. Er ging weg.
Ich hatte ein Vier-Personen-Abteil mit zwei unteren und zwei oberen Betten gebucht. Mein Bett war ein oben. Im selben Abteil war nur ein weiterer Fahrgast: ein Typ aus den Niederlanden, der etwas älter war als ich.
Wir unterhielten uns ein wenig, bevor er mich schließlich fragte: „Are you okay?“
Ich schaute aus dem Fenster und sagte: „I just broke up with my boyfriend„, mit einer distanzierten und ruhigen Stimme.
„So, I guess you will be crying all night then?„, fragte er.
Ich sah ihn an und sagte: „Honestly,… I don’t feel like crying at all.“
Der Zug setzte sich in Bewegung, und mir wurde klar, dass genau dieser Moment der echte Starte meiner Weltreise war.
Wenn ich nun -zehn Jahre später- zurückblicke, war dieser Moment, als ich in den Zug stieg, tatsächlich der Moment, in dem meine Weltreise wirklich begann. Es war das erste Mal, dass ich ganz allein in einem Land war, in dem ich noch nie zuvor gewesen war. Ich hatte noch nie in einem Zug geschlafen. Jeder Meter, den der Zug zurücklegte, war ein Meter weiter weg von „zu Hause“, was auch immer der Begriff „zu Hause“ damals bedeutete. Aber wie gesagt, ich reiste von Kaiserslautern nach Kaiserslautern, aber ich hatte noch tausende Kilometer vor mir.
Damit sind wir am Ende des heutigen Teils der Geschichte angelangt. Nächstes Mal schreibe ich ein bisschen über die 78 Stunden im Zug. Es gibt zwar bereits einen alten Beitrag darüber, aber ich denke, ich sollte das näher erläutern. Was war die weiteste Reise, die du je unternommen hast? Wie war das für dich?
Don’t Panic!