#3 Wer bin ich? Die Zeit vor Beginn meiner Weltreise
Vor etwa zehn Jahren traf ich eine wichtige und lebensverändernde Entscheidung: Ich werde um die Welt reisen – ganz allein. Ich traf diese Entscheidung aufgrund eines tiefen Wunsches, meinen täglichen Routinen und Erwartungen zu entkommen. Dieser tiefe Wunsch wurde von einem anderen maskiert, nämlich dem nach Entdeckungen und Abenteuern. In den letzten beiden Beiträgen habe ich über (einen Teil) der Ereignisse erzählt, die diesen tiefen Wunsch in mir „auslösten“. Heute möchte ich ein wenig tiefer graben. Also… los geht’s.
Vor zehn Jahren, als Studentin, war ich ein Karrierejäger und Lebenslaufoptimierer. Ich machte einen Plan vom Abitur bis hin zur Rente als Informatiker. Ich muss zugeben, dass ich in dieser Hinsicht sogar ein wenig arrogant war. Da ich meinen Lebenslauf optimierte, schaute ich auf Leute herab, die keine solche Optimierung vornahmen, um meine Ansichten zu bestätigen. Tief in meinem Inneren jedoch bewunderte ich die Menschen, die ihren Träumen folgten und nicht so optimierten, wie ich es tat. Im Nachhinein wurde mir klar, dass ich vielleicht schon immer ein „Erwartungsjäger“ war. Die kleine 6-jährige Alise wollte mit Anfang 20 verheiratet sein, zwei Kinder haben und einen blauen BMW fahren. Die ältere Alise war davon gar nicht so weit entfernt. Sie sparte für einen BMW, arbeitete an einer langfristigen Beziehung und wollte nach dem Uniabschluss unbedingt Kinder haben. Das klingt doch ziemlich gut, oder? Anstatt das Was zu kommentieren, sollten wir uns eine Minute (oder wahrscheinlich länger) mit dem Warum beschäftigen. Denn es sind die Warums, die hier wichtig sind. Die kleine 6-jährige Alise wollte genau so sein wie ihre Mama, nur dass der BMW eine andere Farbe hatte. Damals war das super süß und ist sogar typisch für Kinder. Später hatte ich auch meine eigenen Ideen und wurde von meinen Eltern immer unterstützt, aber woher kamen diese Ideen?
Als Teenager wurde ich unzählige Male gefragt: „Was willst du werden, wenn du groß bist?“ Wir hatten in der Schule sogar einen Kurs, der uns dabei helfen sollte. In einer Kurseinheit machten wir einen Test, der uns eine Richtung weisen sollte. Mein Ergebnis lautete: Lehrerin, Ärztin oder Baustoffprüferin mit Spezialisierung auf Mörtel und Beton. Letzteres war der Traumjob schlechthin. Ich fand Baustoffprüferin mit Spezialisierung auf Mörtel und Beton überraschend spezifisch und es könnte nicht weiter von dem Beruf entfernt sein, den ich heute ausübe. Ich machte darauf hin ein Praktikum in einem Chemielabor, weil ich in Chemie immer Einsen hatte und gerne Experimente durchführte. Nach einem Experiment meiner Klasse mit Buttersäure – dem Zeug, das nach faulen Eiern riecht – sprach die Schule ein Verbot für solche Experimente aus. Darauf bin ich immer noch ein bisschen stolz. Das Praktikum im Chemielabor war großartig. Meine Freundin und ich haben ein paar wirklich lustige Sachen mit Trockeneis angestellt, die unsere Betreuerin brüskiert haben[1]Wir haben alle behälterähnlichen Gegenstände aus ihrem Labor genommen, sie mit irgendeiner Flüssigkeit und einem Stück Trockeneis gefüllt. Als sie den Raum betrat, brodelte es überall.. Ein Chemiestudium wäre auch cool gewesen, aber der Beruf des Chemikers schien mir eher eine Endlosschleife zu sein, in der man Dinge in einen Automaten kippt und darauf wartet, dass er ein Ergebnis ausspuckt. Außerdem braucht man den Doktorgrad, wenn man Karriere machen will, und ich fühlte mich nicht geeignet dafür. Ich muss mich damals wohl verschätzt haben, denn letztes Jahr promovierte ich in Informatik und habe jetzt der Doktor der Naturwissenschaften. Damals dachte ich, es sein sinnvoll „etwas mit Zukunft“ zu machen, bei dem man ein gutes Gehalt verdienen kann. Da ich bereits mit 15 Jahren mit Webprogrammierung angefangen hatte, entschied ich mich für Informatik. Es gab mehrere Fächer, die ich persönlich vorgezogen hätte, wie z. B. Psychologie, aber ich hatte -mal wieder- das Gefühl, dass ich dafür nicht gut genug bin und habe mich davon abschrecken lassen.
Ich muss zugeben, dass ich bereits in meiner Kindheit anfing, mich ein wenig „anders“ zu wahrzunehmen. Ich kann nicht genau beschreiben warum, aber vieles erschien mir im Vergleich zu anderen schwieriger. Da das menschliche Gehirn auf Vergleiche programmiert ist[2]Das zeigte bereits frühe Forschung in den 50er Jahren: https://doi.org/10/bg7388, verglich ich mich mit anderen und dachte: „Ich bin die Seltsame.“ Die einzige Möglichkeit, dem zu entkommen, war es, mit dem Strom zu schwimmen. Für mich hieß das, eine Karriere zu planen und etwas zu studieren, das eine große Zukunft hatte. Zwei Wochen nach dem Abitur war ich bereits in einem Informatik-Studiengang eingeschrieben. Wie das ablief, ist Teil eines anderen Beitrags. Da war ich also in meinem letzten Semester, das wegen des Matrix-Salto-Unfalls etwas länger dauerte als geplant. Ich arbeitete an meiner Bachelorarbeit und meinem Plan, um die Welt zu reisen. Ich verspürte den Drang, all meine Freunden und meine Familie in meinen Pläne einzuweihen.
Eines Tages setzte ich mich in meiner winzigen Wohnung mit einem Stapel Klebezettel hin. Während einer Art Brainstorming-Sitzung schrieb ich alle meine Traumziele auf. Anschließend ordnete ich die Zettel in einer für mich logischen Reihenfolge zu einer möglichen Reiseroute. Die Route war ziemlich chaotisch und dadurch extrem schwierig zu realisieren. Ich hatte alle möglichen Länder, Städte und Ideen: Kambodscha (Angkor Wat), Vietnam, Japan, Australien, Ägypten, Atlantiküberquerung mit dem Schiff, Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn, Antarktis, USA, China, Singapur, Kuala Lumpur, Neuseeland… Ich kann mich ehrlich gesagt nicht mehr an die komplette Liste erinnern, aber hier zeigt sich ein für mich interessantes Muster: So wie ich versucht hatte, meine Karriere zu perfektionieren, so ging ich anfangs auch an meine Weltreise. Ich wollte alles planen und kontrollieren. Auch wenn ich dachte, endlich meiner tiefen Sehnsucht nach Abenteuern zu folgen, war es doch lediglich nur eine Maske dafür, dass ich alles für eine Weile hinter mir lassen wollte. Außerdem hatte ich Angst vor der fetten Lücke in meinem Lebenslauf, die diese Reise hinterlassen würde. Wie würde ich das nur begründen können? Eines Tages nahm ich meinen Stapel Klebezettel und ging in ein Reisebüro. Bis zum heutigen Tag ist der Berater[3]Wolfram, wenn du das hier liest: Du bist ein wahrer Held! Ohne dich wäre ich nie in der Lage gewesen, diese Reise zu planen und zu organisieren., der dort arbeitete, ist der beste Reiseberater, den ich je hatte.
Er brachte mich auch auf das Wesentliche bei der Organisation einer solchen Reise zurück: ein Budget. Das bringt mich auch zu der Frage, die mir am häufigsten gestellt wird: „Wie hast du deine Weltreise finanziert?“ Um ehrlich zu sein, war ich damit überfordert. Ich hatte zwar Ersparnisse, die ich ursprünglich für einen BMW ausgeben wollte, aber wenn ich von diesem Geld einen BMW hätte kaufen wollen, so hätte es ein alter sein müssen. Mit Hilfe des Reisebüros und meinem Zwang, vor dem nächsten Sommersemester (2013) zurück zu sein, wurde die Dauer der Reise auf neun Monate festgelegt. Wir schätzten, dass ich mindestens 1000 Euro pro Monat plus ein gewisses Sicherheitsbudget benötigen würde. Von dem Tag an, an dem ich diese Zahl kannte, änderte ich mein tägliches Leben drastisch:
- Ich hörte auf auszugehen/ins Kino zu gehen/auswärts zu essen. Unzählige Male saß ich neben meinen Freunden, die eine Pizza aßen.
- Ich habe alle Mitgliedschaften gekündigt, die ich nicht brauchte.
- Ich nahm jeden Job an, den ich bekommen konnte: Ich tauschte Computer in einer großen Firma aus, ich gab Studenten und Schülern Nachhilfe, ich arbeitete als Kellnerin, wann immer ich konnte.
- Nach einiger Zeit bot mir mein Freund (ja, ich hatte einen „neuen“ Freund) an, bei ihm zu wohnen, um etwas Miete zu sparen und zu sehen, wie es mit dem Zusammenleben klappt. Als ich umzog, verkaufte ich einen Teil meiner Möbel an den neuen Mieter.
- Ich verkaufte eine Menge meiner Sachen online.
- Meine Eltern boten mir an, mir weiterhin ein kleines Taschengeld zu zahlen, während ich auf der Reise war.
So hatte ich am 1. Februar 2012 genug Geld, um einen Teil meiner Reise von Kaiserslautern nach Los Angeles zu buchen. Dies beinhaltete:
- Sieben Flüge (Berlin-Moskau, Peking-Tokio (hin und zurück), Hongkong-Hanoi, Singapur-Brisbane, Brisbane-Fidschi und Fidschi-Los Angeles)
- Drei Gruppentouren (China, Vietnam-Kambodscha-Thailand, Thailand-Malaysia-Singapur)
Außerdem kaufte ich Tickets für die Transsibirische Eisenbahn durch die Mongolei (Moskau-Irkutsk-Ulaan Bator-Beijing) und Visa für diese Länder bei einem anderen Unternehmen. Die Buchung der übrigen Teile (nach Los Angeles) war schlichtweg zu früh.
Durch die frühe Buchung, wusste ich bereits Monate im Voraus, wo ich sein würde. Ich fühlte mich damals nicht wohl dabei, Zugtickets und Weiteres auf eigene Faust zu organisieren. Folglich, buchte ich ein paar organisierte Touren. Wenn ich heute zurückblicke, muss ich ein bisschen darüber schmunzeln, denn ich habe mich total verändert und würde nie wieder einen so detaillierten Plan erstellen. Damals brauchte ich ihn jedoch als Sicherheit und Bedürfnissen nach Kontrolle. Diese Bedürfnisse kamen jedoch nur deshalb auf, weil ich mich selbst so derart unsicher fühlte. Heute ist das vollkommen anders: Ich fühle mich sicher, solche Reisen selbst zu organisieren, aber das ist etwas, das ich erst aus Erfahrung heraus lernen musste.
Abschließen möchte ich diesen Monster-Beitrag mit den Reaktionen anderer auf meine Reise und meine letzte Woche zu Hause. Viele Leute sagten mir, dass sie mich extrem mutig fänden. Sie sagten, die Welt sei ein so gefährlicher Ort, dass ich mir lieber noch einmal überlegen solle, ob ich das auch wirklich tun wolle. Andere machten sich Sorgen um mein Geld, um meine Karriere, um meine körperliche Unversehrheit. Mir wurde so oft gesagt, dass „es“ schlecht ausgehen werde – in meinem Kopf fand ich mich irgendwie sogar damit ab, dass ich nicht heil zurückkehren würde. Es ist ein bisschen so, als hätte ich erwartet, dass mir etwas Schlimmes zustoßen würde, aber ich wollte dieses Abenteuer trotzdem, die Risiken waren mir egal. Im Nachhinein betrachtet war das ein bisschen naiv. Genau die Leute, die mir Angst machten, waren gleichzeitig diejenigen, die nie außerhalb typischer Urlaubsziele gereist waren. Kurz vor meiner Reise traf ich mich mit allen, die mir jemals etwas bedeutet haben, darunter Menschen, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ich wollte mich von ihnen „richtig“ verabschieden, was auch immer das im Speziellen hieß. Und… plötzlich hatte ich keine Angst mehr, mit Leuten über Themen zu sprechen, die mir unangenehm waren, weil ich eine Jetzt-oder-Nie-Mentalität hatte. Es war mir einfach egal, auf eine gute Art und Weise. Bis heute versuche ich, eine ähnliche Einstellung zu haben, denn man kann auch über unangenehme Aspekte respektvoll sprechen. Mein Freund und ich waren uns zum Beispiel einig, dass es besser sein würde, sich zu trennen und zu sehen, wie es läuft, und das war gut so.
Die Woche vor meiner Abreise war sehr emotional: Ich verteidigte meine Bachelorarbeit an einem sehr regnerischen Tag und traf einen wichtigen Freund. Ich war ein letztes Mal mit meinen Freunden in meinem Lieblingsrestaurant und aß Pizza. Die Kellnerin war verwirrt über die Anzahl der Eistees, die wir wie so oft bestellt hatten. Die Kinder aus dem Sportverein, in dem ich ehrenamtlich tätig war, waren unglaublich süß.
Ich bekam einige Geschenke von ihnen, gemalte Bilder, und wir machten viele Fotos zusammen. Damals waren diese Kinder ein großer Teil meines Lebens. Ich sah sie über Jahre hinweg aufwachsen und bis heute vermisse ich sie manchmal sehr.
Ich ging meine Ausrüstung immer und immer wieder durch, um alles zu überprüfen, denn ich wollte vorbereitet sein. Ich vergewisserte mich, dass ich alles, was ich besitze, über mehrere Kilometer tragen kann.
Am 17. Juni 2012 holte mich ein Freund, der zu der Zeit in Bonn lebte, mit seinem Auto ab. Bevor ich die Welt bereise, wollte ich noch ein bisschen mehr von Deutschland erkunden. Ich verabschiedete mich von meiner Familie, nahm meine beiden Rucksäcke und los ging es. Meine Mutter weinte, aber das zählt auch irgendwie zur „Berufsbeschreibung“ einer guten Mama. Ich habe sie aus dem Auto heraus angeschaut, bis es nicht mehr möglich war.
Wenn ihr bis hierher gelesen habt, wow! Vielen Dank, für deine Zeit. Gab es irgendwelche großen Veränderungen in deinem Leben? Das muss nicht unbedingt mit dem Reisen zu tun haben. Nächstes Mal schreibe ich über meine letzten Tage in Deutschland und das erste Mal, dass ich die EU verlasse. Bis dahin…
Don’t Panic!
References
↑1 | Wir haben alle behälterähnlichen Gegenstände aus ihrem Labor genommen, sie mit irgendeiner Flüssigkeit und einem Stück Trockeneis gefüllt. Als sie den Raum betrat, brodelte es überall. |
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↑2 | Das zeigte bereits frühe Forschung in den 50er Jahren: https://doi.org/10/bg7388 |
↑3 | Wolfram, wenn du das hier liest: Du bist ein wahrer Held! Ohne dich wäre ich nie in der Lage gewesen, diese Reise zu planen und zu organisieren. |