#8 Reisen ist nicht wie Urlaub
Nach dem Tag am Baikalsee erkundetete ich Irkutsk zu Fuß. Die Stadt war komplett anders als Moskau. Selbstverständlich lag das an der Größe, aber auch daran, dass es viele kaputte Seitenstraßen mit sehr notdürftig renovierten Häusern gab. Irgendwie entsprach das nicht meiner Erwartung, wobei… was erwartete ich eigentlich? Wenn ich damals an Russland dachte, musste ich unweigerlich an Korruption und Betrug denken. Doch weder das eine noch das andere erschlossen sich mir so richtig, denn nicht jeder Russe/jede Russin ist korrupt und jeder Stereotyp, der je in meinen Gedanken war, wurde komplett aus dem Fenster geworfen durch die Herzlichkeit, die mir immer wieder entgegengebracht wurde.
Ich muss zugeben, damals hatte ich gar keine große Lust die Stadt zu erkunden und alles abzuklappern, aber ich wusste zu diesem Zeitpunkt irgendwie nichts besseres mit mir anzufangen. So alleine unterwegs, fühlte ich mich plötzlich irgendwie leer. Bei der Gastfamilie rumsitzen wollte ich auch nicht. Also machte ich mich wie bereits erwähnt zu Fuß auf den Weg. Die Lenin-Statue in der Innenstadt beschäftigte mich eine Weile, doch irgendwie wollte ich auch nicht schon wieder über Politik und Geschichte[1]Es sollte weitere 8 Jahre dauern bis etwa März 2020 bis ich mir meiner Meinung in diesem Thema „sicher“ war. nachdenken. Ich fühlte mich wirklich einfach nur noch müde und leer. Eines lernte ich zum ersten Mal an genau diesem Tag: Reisen ist kein Urlaub. Nicht jeder Reisetag ist schön. Eine Reise ist keine ununterbrochene Serie von Hochs.
Nach meiner Rückkehr zur Unterkunft half mir die Tochter meine schmutzige Kleidung der letzten Wochen zu waschen und erklärte mir chinesische Teezeremonie, weil sie gerade an einem Kurs teilgenommen hatte. Der von ihr zubereitete Tee was super lecker und so schrieb ich eine Teezeremonie in China auf meine mentale Todo-Liste.
Abends war die Tochter mit Freunden in der Innenstadt verabredet und bot an mich mitzunehmen. Über diesen Abend schrieb ich folgendes in mein Reisetagebuch:
Es regnet, was eine Untertreibung ist, denn es schüttet mehr als aus Eimern und draußen geht die Welt unter. Gerade wird die Kanalisation [in den Straßen von Irkutsk] „eingebaut“, daher sind die Straßen Flüsse und Wasserfälle, wo das Wasser laut entlangrauscht. Es donnert und kracht. Gerade bin ich klatschnass zurück von einem Konzert: Gewitter und Musik – eine sehr gute Kombination.
Auch wenn mir nicht nach Party zumute war, willigte ich ein mit der Tochter ein Konzert zu besuchen. Das Wasser stand in der Innenstadt ca. 20 Zentimeter hoch in den Straßen. Ich zog deshalb meine Schuhe aus und lief barfuß, um später trockene Füße zu haben. Das Konzert war musikalisch gesehen ganz okay. Die Russen waren krass am Feiern, es floß viel Alkohol – vor allem Wodka. Aufgrund der Sprachbarriere konnte niemand außer der Tochter sich mit mir unterhalten. Das machte mich zum stummen und nüchternen Beobachter der Situation. Momente wie diesen hatte ich öfter im Leben: ich fühlte mich durch und durch fehl am Platz, so wie der Zuschauer eines Films, der dem Hauptcharakter sagt „nein, tu es nicht!“ Trotzdem stand ich da umringt von gröhlenden, betrunkenen Russen mit Musik, die nicht meinem Geschmack entsprach. In dem Stadtteil war gerade eine Shopping-Mall am „Errichtetwerden“, die laut Aussage der Tochter, keiner sorecht haben wollte. In meiner Heimatstadt gab es vor kurzem eine heiß diskutierte Abstimmung über genauso eine Mall.
Die Umgebung war laut, die Luft war schlecht. Nach einiger Zeit gab ich der Tochter bescheid, dass ich mich auf den Heimweg mache. Der Einblick in die Feierkultur war okay, aber teilhaben daran wollte ich nicht. Stattdessen wollte ich lieber fit sein für den Zug, was eigentlich komplett absurd ist, wenn man bedenkt, dass man im Zug sowieso nur rumsitzt oder -liegt. Andererseite musste ich schon um 4:00 Uhr morgens startklar für die Abfahrt sein, denn der Zug fuhr um 4:52 Uhr.
„Fit“ für den Zug war ich also allemal. Interessanterweise war es vom Aufbau her ein komplett anderer Zug als zuvor – das Modell war viel älter. Die Klimanlage bestand aus einer Lücke zwischen Fenster und Wand. Es roch irgendwie komisch. Meine Russisch- und Englischkenntnisse schienen bei den Passagieren erstmal komplett nutzlos. Also nahm ich meinen Schlafsack und schaffte es ein wenig zu schlafen. Als ich aufwachte fuhren wir gerade am Baikalsee entlang, welcher einen unglaublich schönen Ausblick bot. Glücklicherweise lernte ich auf dem Gang schnell andere Reisende kennen, mit denen ich mich ein bisschen unterhalten konnte. Darunter war eine Englisch-Mongolisch-Dolmetscherin, die mit ihrer kleinen 1,5-Jahre alten Tochter nach Ulaan Bator unterwegs war. Die Tochter hatte echt Spaß dabei mit Merlin zu spielen.
Wir konnten die Zugfenster öffnen, was ohne Klimaanlage bitter nötig war. Der meiste Teil dieser Fahrt ist für mich jedoch ein Handlungsloch. Nichts spannendes passierte, besondere Gedanken gab es nicht.
Ein zentraler Aspekt dieser Fahrt war die Überquerung der russisch-mongolischen Grenze. Zum ersten Mal in meinem Leben überquerte ich eine Landesgrenze mit dem Zug, bei der sogar noch eine Pass- und Visumskontrolle notwendig war. Die Situation war für mich ziemlich skurril muss ich sagen, hatte ich als EU-Bürgerin doch bereits unzählige Grenzen „einfach so“ überquert. Menschen rannten durch den Zug? Waren das irgendwelche Schmuggler? Ob sie wohl erwischt wurden?
Zunächst wurden unsere Pässe überprüft, indem die Visumseite angeschaut wurde. Anschließend wurden die Pässe eingesammelt und für drei Stunden einbehalten. Während dieser drei Stunden wurde der komplette Zug geräumt und abgeschlossen. Ich war also irgendwo an einem Bahnhof in der Mongolei und saß dort für drei Stunden fest ohne Pass, ohne Beschäftigung. Natürlich vergingen die drei Stunden irgendwie. Nach dem Wiedereinstieg wurde der Zug jedoch nochmal von vorne bis hinten durchsucht und wir bekamen unsere Pässe wieder. Das war aber nur der „Checkout“ von Russland, was bedeutet, dass wir lediglich wenige Kilometer weiter fuhren, um dann in die Mongolei einzureisen. Die Einreise war deutlich anders als erwartet. Mittlerweile war es Abend und es wurde angeordnet, dass wir die Vorhänge der Fenster schließen. Der Zug stand. Innen war es schwül und heiß. Draußen war alles voller Militär. Der Zug wurde mehrfach gründlich mit Hunden durchsucht. Währenddessen mussten wir Einreisedokumente ausfüllen, einerseits um Reisedaten anzugeben und andererseits noch etwas für den Zoll. Diese wurden einzeln eingesammelt. Auch wenn der Prozess lange dauerte, lief für mein Abteil zumindest alles glatt und der Zug setzte sich wieder in Bewegung Richtung Ulaan Batar.
Von allen Nächten, die ich bis heute in Zügen verbrachte war dies eine der schlimmsten. Das Fenster schloss nicht richtig, weshalb es eisig kalt wurde. Weder mein Schlafsack noch Jacken halfen die Kälte abzuhalten. Ich schätze, dass ich maximal drei Stunden schlief. Mein Wachsein wurde von Gedanken an den Grenzübertritt begleitet. Ich muss sagen, dass wir Europäer es wirklich verdammt gut haben. Ich kann einfach spontan entscheiden, „jetzt“ nach Frankreich zu fahren und das einfach machen. Ich bräuchte kein Visum, kein anderes Geld und muss an der Grenze nicht warten. Gäbe es dort kein Schild, würde mir gar nicht auffallen, dass da eine Grenze ist. In vielen Teilen der Welt ist dies jedoch gänzlich anders.
Don’t Panic!
References
↑1 | Es sollte weitere 8 Jahre dauern bis etwa März 2020 bis ich mir meiner Meinung in diesem Thema „sicher“ war. |
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