#6 Erkenntnisse während 78h im Zug
Der Einstieg in die Transsibirische Eisenbahn markierte den „wirklichen“ Start meiner Weltreise. Dieser Start hatte es ganz schön in sich, denn er begann mit schlappen 78 Stunden in einem Zug[1]Ich habe die Fahrt damals bereits sehr oberflächlich verbloggt., welcher 5.206km zurücklegte (zum Vergleich: das entspricht grob sechs mal der deutschen Nord-Süd-Ausdehnung). Endlich fühlte sich mein „Dasein“ wirklich wie eine große Reise an. Ich war ganz allein in einem Zug von Moskau nach Irkutsk. Es war die erste Nacht, in der ich je in einem Zug schlief. Davon hatte ich geträumt, seit ich als Zehnjährigere in der Schule von der Transsibirischen Eisenbahn gehört hatte. Endlich war es soweit. Ich konnte spüren, wie sich der Zug bewegte, ich konnte ihn hören, irgendwie erleichterte das sogar das Einschlafen.
Bis Omsk teilte ich das Vier-Personan-Abteil mit lediglich einem weiteren Fahrgast. Es war ein Typ aus den Niederlanden, der Wodka aus einer Tasse Putin-Bild darauf trank. Ich finde das heute noch super witzig! Im Zug traf ich eine Menge anderer Reisende, die ebenfalls aus Europa waren. Im Abteil bekamen wir täglich Besuch von unserer Zugbegleiterin Natalia, die einmal durchsaugte. Sie konnte kein einziges Wort Englisch, aber ich schaffte es irgendwie, mich mit den wenigen Worten Russisch, die ich kannte, mit ihr zu verständigen. Nebst der Erkundung des Zuges, die daraus bestand komplett von vorne nach hinten zu laufen, verbrachten wir einige Zeit im Speisewagen. Ich hörte außerdem Musik, Podcasts, las ein Buch[2]Ich hatte auf der gesamten Weltreise immer ein Buch dabei, welches ich etwa alle zwei Wochen in Hostels gegen etwas neues tauchte. und unterhielt mich mit anderen.
Omsk markierte die Hälfte der Strecke nach Irkutsk mit 2.661 zurückgelegten Kilometern. Dort stießen zwei Fahrgäste – ebenfalls aus den Niederlanden – zu uns ins Abteil, sodass alle Schlafplätze belegt waren. Wir unterhielten uns in drei Sprachen (Niederländisch, Englisch und Französisch). Ich „übte“ und lernte Russisch mit einer App. Einer der Niederländer sagte eines Abends jedoch: „Why do you study Russian, I don’t have any issues here, I always get what I want. Look!“ Er winkte der Kellnerin des Speisewagens zu und sagte „Wada, niet gas“ (wörtlich: „Wasser, es gibt kein Gas“), um Wasser ohne Kohlensäure zu bestellen. Er bekam tatsächlich, was er wollte. Seine Begleitung gab mir ein bisschen Musik – darunter waren sehr schöne Klavierstücke. Eines davon wurde – vermutlich aufgrund genau dieser Fahrt – zu einem meiner Lieblingslieder bis zum heutigen Tag: Una Mattina von Ludovico Enaudi[3]Jahre später hatte ich urplötzlich Motivation dieses Stück selbst am Klavier zu lernen und es war ein unglaublich intersiver Moment als ich es zum ersten Mal von vorne bis hinten spielte. Während ich diese Musik hörte, saß ich stundenlang am Fenster und beobachtete Bäume, Wiesen und Dörfer, die an mir vorbeizogen. Die Landschaft draußen hatte zusätzlich die beruhigende Wirkung, dass es noch „Platz“ auf der Welt gibt und nicht alles total zugebaut ist. Jedes Holzhäuschen hatte einen Garten, Stromleitungen waren nicht immer erkennbar. Lebten dort wirklich Menschen? Es musste so sein. Ihr müsst verstehen, zuvor war ich in Moskau – eine Stadt, die vor Prunk geradezu platzt. Und jetzt fuhr ich über 5.000km an diesen Dörfern vorbei. Dieser Kontrast war für mich unglaublich schockierend. Zusätzlich spürte ich die Distanz. Die 1.700km zwischen Berlin und Moskau war ich in ca. 4h geflogen. Die Flugzeit von Moskau nach Irkutsk wäre ca. 6h gewesen. Sechs Stunden, indenen ich diese unglaubliche Distanz niemals wahrgenommen hätte. Ich hätte diese Dörfer niemals gesehen, die Bewegung des Zuges niemals wahrgenommen.
Der Zug hielt von Zeit zu Zeit an, sodass ich mir auch mal die Beine vertreten konnte. Auf den Gleisen verkauften ältere Frauen frisches Essen aus ihren Gärten und Teilchen. Einmal hatte Natalia die Tür ziemlich früh geschlossen, so dass einer der Niederländer und ich den Zug nicht betreten konnten. Wir rannten an ihm entlang, um eine andere offene Tür zu finden, durch die wir einstiegen. Die Zeit im Zug war schön, auch wenn 78h ehlend lange klingen. Irgendwann jedoch, ich weiß nicht mehr wann genau, gab es einen schwierigen Punkt für mich: ich hatte alles getan, was man tun konnte. Das Buch war zu Ende gelesen, ich kannte die anderen Reisenden und den Grundriss des Zuges kannte ich auswendig. An diesem Punkt, war es aus mentaler Sicht nicht mehr so recht möglich „einfach“ zu entspannen. Während ich die Klaviermusik hörte und aus dem Fenster schaute, gingen mir verschiedenste Gedanken durch den Kopf. In gewisser Weise war es ähnlich wie die Zeit, die ich nach dem Unfall zu Hause verbringen musste. Allerdings fühlte es sich weniger bedrückend oder beengend an.
Ich dachte über die letzten Jahre nach. Dabei versuchte ich auch in die Zukunft zu blicken, denn nach meiner Rückkehr hatte ich vor, mich für einen Masterstudiengang in Informatik an derselben Uni einzuschreiben. Zum wiederholten Male fühlte es sich irgendwie nicht richtig an. Ich hasste Software-Engineering, weil ich es langweilig fand, Programmieren war ganz okay, aber nichts, was ich für den Rest meines Lebens machen wollte. Noch zu Schulzeiten interessierte ich mich eher für IT-Sicherheit, Forensik und die ganze „Magie“, die Algorithmen einem ermöglichten. In meinem ganzen Leben hatte ich exakt einmal Hausarrest mit 16 Jahren. Damals fand ich eine Möglichkeit von der E-Mailadresse des Betreibers eines kleinen lokalen Sozialen Netzes, bei dem ich half, eine Einladung zu einem Treffen zu schicken. Somit konnte ich den Hausarrest umgehen. Ja, Mama… so zu 100% brav war ich dann doch nicht. An meiner Uni gab es gar keine Kurse in IT-Sicherheit. Vielleicht lag mein Problem gar nicht tief in der Informatik, sondern eher in den Anwendungsbereichen, die an meiner Universität begrenzt waren. In den unzähligen „Berufunterrichtsstunden“ hatte uns niemals jemand beigebracht mal in das Modulhandbuch -das Kursverzeichnis- einer Universität zu schauen. Dabei wäre genau das so viel hilfreicher gewesen als herauszufinden, dass ich eingeblich super als Baustofftesterin für Mörtel und Beton geeignet bin. Zusätzlich dazu, war es mir nie in den Sinn gekommen, Kaiserslautern zu verlassen.
Nach all dem Stress im Studium, hatte ich das Gefühl, niemals wieder zurück an die Universität gehen zu wollen. Hätte man mir damals gesagt, dass ich mal promovieren werde, so hätte ich laut gelacht. Ich dachte zurück an die Vorlesung „Logik“ – ein Pflichtfach der Informatik. Es ging um Aussagenlogik, Prädikatenlogik… Ach ich erspare euch das mal! Begleitend zu Vorlesungen gab meistens eine Übung, an der man verpflichtend teilnehmen und eine gewisse Punktzahl erreichen musste, um an der Klausur teilnehmen zu dürfen. Bei Logik war es die Hälfte aller Übungsblattpunkte und das Bestehen einer Zwischenklausur. Von Uniseite wurde das als „Selbstschutz für Studierende“ bezeichnet, denn wenn man nicht einmal die Übung zu einem gewissen Grad schaffen würde, so würde man gewiss nicht die Klausur bestehen. Für Klausuren gab es drei Versuche. Nach dem dritten war man Bundesland-weit, manchmal auch landesweit, für das Studienfach gesperrt und musste irgendwo von vorne anfangen. Bei Logik hatte ich die Klausurzulassung sehr früh erreicht und löste jeweils mit Bravour die Übungsaufgaben. Die Zwischenklausur bestand ich auch. Also lernte ich vor der Klausur und ging ganz locker[4]Ich hatte aber ziemlich schlimme Angst vor Klausuren, die daher kamen, dass es teilweise einfach unglaublich schwere Aufgaben gab für die ich anders als zu Schulzeiten wirklich richtig ranklotzen … Continue reading mit diesem Fach um über das alle nur fluchten. Dann kam der Tag der Klausur. All das erworbene Wissen und die Übung konnten mir nicht helfen verschiedenste schwierige Aussagen zu beweisen. So setze ich diese Klausur vollends in den Sand. Ich merkte mir die Aufgaben nachdem ich mir die Klausur in der Einsicht anschauen und löste sie mit Recherche. Noch im selben Semester gab es eine Nachklausur für die ich mehr lernte. Was ich nicht ahnen konnte: Der Professor stellte andere Aufgaben, plötzlich kamen Themen aus der Zwischenklausur dran, die Ewigkeiten zurücklag. Mein zuvoriges Lernen war komplett nutzlos und so fiel ich auch durch diese Klausur.
Der Druck stieg, denn jetzt war ich im Drittversuch, welcher darüber entschied, ob ich weiter studieren durfte. Wenn ich jetzt durchfallen würde, wäre alles umsonst gewesen. Ich hörte die komplette Vorlesung nochmal. Der Professor empfahl immer mal wieder Zusatzliteratur und so ging ich mitten im Semester in die Bibliothek und lieh mir einen ca. zwei Meter hohen Stapel Bücher aus. Ich ackerte mich durch die zwei Meter und erkannte einige der komplexen Beweise aus der Klausur wieder. Im Monat vor der Klausur machte ich nichts anders als jeden Tag Übungsaufgaben zu rechnen und weitere Beweise zu „lernen“. Ich ging mit Fragen zum Vorlesungsassistenten und sogar zum Professor selbst, um jede noch so kleine Aufgabe zu verstehen. Ich setze mich mit Altklausuren hin und rechnete diese in 90 Minuten durch. Mein Leben bestand nur noch aus Logik. Und dann kam er: Der Tag der Rechen- und Beweisschlacht. Die 90 Minuten vergingen wie im Flug. Als ich den Raum verlies, dachte ich, „…wenn ich jetzt nicht bestehe, dann war das Bestehen für mich einfach nicht möglich“.
Wochen zogen ins Land und ständig schaute ich, ob Ergebnisse schon bekannt waren. Damals hingen noch Papierlisten an den Pinnwänden der jeweiligen Forschungsgruppe aus. Es war unerträglich. Und plötzlich war es da, mein Ergebnis. Ich erfuhr es sehr kurz vor der Klausureinsicht. Ich hatte nicht nur bestanden, sondern eine 1,7 und somit die zweibeste Klausur. Der Durchschnitt war miserabel, 80% fielen durch, von den bestandenen hatte die Mehrheit eine Drei oder Vier. Nach der Einsicht gab ich meine Klausur wieder beim Professor ab, er schaute die Note an und sagte „Sie haben meinen Tag erhellt.“ Für 30 Sekunden war ich unglaublich stolz und strahlte das auch weiterhin aus, innen aber fühlte ich mich unglaublich leer. Fast ein ganzes Semester hatte ich für diese Klausur verschwendet. Vielleicht wird jetzt klarer, warum ich gegen Ende die 58 Leistungspunkte holen wollte. Zum Vergleich: Für Logik bekam ich ganze Fünf.
Als im Zug aus dem Fenster schaute erinnerte ich mich daran und daran, dass die Mathematiker keine Folgefehler[5]Folgefehler bedeuten, dass man in einer Rechnung irgendwo einen kleinen Fehler macht und dann auf Basis dieses Fehlers weiterrechnet. Das bedeutet zwar, dass man zu einem falschen Ergebnis kommt, … Continue reading berücksichtigten, weil sonst die Klausurkorrektur zu lange dauerte. Ich dachte an den Stress der 58 Leistungspunkte und so vieles mehr. Ich hatte die Schnauze voll, es musste doch einen Weg geben, mit dem Bachelor einen Job zu finden oder sogar das Fach zu wechseln. Im Zug war ich alleine. Da war niemand, der mir jetzt gut zureden konnte und in die diese Gedanken „hineingrätschen“ würde. Bereits in der Oberstufe hatte ich mir fest vorgenommen, in meiner Heimatstadt Informatik zu studieren. Dieses Commitment war so stark, dass es mir extrem schwer fiel, davon loszulassen. Die Verpflichtung an sich war also wichtiger als meine Gefühle und Bedürfnisse. Im Zug wollte ich keine Entscheidung dieser Tragweite treffen, es verstärkte jedoch den Wunsch niemals wieder an die Uni zu wollen.
Ich hielt diese Wut fest als Text in meinem Reisetagebuch und begann Bereitschaft dafür zu entwickeln nach Alternativen für meine berufliche Zukunft zu suchen. Vielleicht sogar im Ausland? Scherzeshalber schrieb ich „… ich reise doch quer durch die Welt. Vielleicht ist es ja irgendwo so cool, dass ich da eine Weile bleiben mag?“ Dieses Loslassen fühlte sich gut an, auch wenn es gleichzeitig unglaubliche Ängste auslöste, die es noch zu überwinden gab. Ich habe während dieser Zugfahrt keine Lösung für irgendwelche Probleme gefunden, sie trug aber dazu bei mich mehr und mehr von meinem Alltag und den damit verbundenen (Denk-)Routinen zu lösen. Nach 78 Stunden kamen wir morgens um 4:00 Uhr in Irkutsk an. An Mann wartete mit einem Schild, das meinen Nachnamen trug auf mich. Ich hatte nämlich einen Transfer zu meiner Gastfamilie gebucht, die mich direkt zu einem frisch gemachten Bett brachte. Schlafen konnte ich jedoch nicht, denn mir fehlte die Bewegung vom Zug.
Don’t Panic!
References
↑1 | Ich habe die Fahrt damals bereits sehr oberflächlich verbloggt. |
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↑2 | Ich hatte auf der gesamten Weltreise immer ein Buch dabei, welches ich etwa alle zwei Wochen in Hostels gegen etwas neues tauchte. |
↑3 | Jahre später hatte ich urplötzlich Motivation dieses Stück selbst am Klavier zu lernen und es war ein unglaublich intersiver Moment als ich es zum ersten Mal von vorne bis hinten spielte |
↑4 | Ich hatte aber ziemlich schlimme Angst vor Klausuren, die daher kamen, dass es teilweise einfach unglaublich schwere Aufgaben gab für die ich anders als zu Schulzeiten wirklich richtig ranklotzen musste. |
↑5 | Folgefehler bedeuten, dass man in einer Rechnung irgendwo einen kleinen Fehler macht und dann auf Basis dieses Fehlers weiterrechnet. Das bedeutet zwar, dass man zu einem falschen Ergebnis kommt, jedoch hat man den richtigen Rechenweg angewendet. Werden Folgefehler berücksichtigt, so hat man noch eine Chance auf Teilpunkte. Schaut jemand hingegen nur auf das Ergebnis, so erhält man gar keine Punkte. Als ich selbst Klausuren korrigierte, begegnete ich einer Menge von Folgefehlern, hätte ich diese nicht berücksichtigt, wären mit Sicherheit eine Menge Studenten durchgefallen. |