#4 Meine letzten Tage in Deutschland
Vor etwa zehn Jahren war das erste Ziel meiner Weltreise Bonn – von 1949 bis 1990 war Bonn die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland. Bevor ich mein Heimatland für neun Monate verließ, wollte ich noch ein wenig mehr davon erkunden. Ein Freund, der in Bonn studierte, nahm mich mit und gab mir für ein paar Tage eine Unterkunft. Unterwegs zu sein in Bonn, fühlte sich überhaupt nicht wie eine große Reise an, eher wie ein Wochenende bei Freunden. Ich erkundete Bonn zu Fuß und verbrachte viel Zeit im „Haus der Geschichte“ – ein kostenfreies Museum zur deutschen Geschichte ab 1945. Als Deutsche in Deutschland hatte ich nie so wirklich über die Thematik nationale Identität nachgedacht. Obwohl ich mich für die (deutsche) Geschichte interessierte, im Land aufgewachsen war, die Sprache selbstverständlich perfekt beherrschte, wusste ich nicht so recht, was es bedeutete, ein Deutscher zu sein. Ich hatte viele Menschen aus den USA getroffen, die eine starke Verbindung zu ihrem Land verspührten und stolz auf die USA, ihre Errungenschaften und ihre Freiheit waren. Als Deutsche konnte ich das nicht so recht nachvollziehen. Ich kannte Teile der deutschen Hymne, das war’s.
Man kann nationale Identität weder messen noch quantifizieren[1]Beim Erwerb einer Staatsbürgerschaft wird dies häufig durch Sprachkenntnisse und ein Einbürgerungstest versucht. Dies dient jedoch dazu, ein gemeinsames Verständnis bestimmter Informationen zu … Continue reading, aber ich habe es damals intuitiv irgendwie versucht. Ich fühlte mich unwohl dabei, mich mit Deutschland zu identifizieren, vor allem, wenn ich an die Vergangenheit dachte und an all die schrecklichen Dinge, die Nazi-Deutschland getan hatte. Mehr als 6 Millionen Menschen wurden im Holocaust ermordet. Während meiner Schulzeit fühlte ich mich von der fünften Klasse an bis zum Abitur von all den Geschichtsstunden über Nazi-Deutschland und seine Verbrechen regelrecht erdrückt. Im Alter von zehn Jahren lernte ich sogar Erna de Vries kennen, eine Auschwitz-Überlebende, die erst vor vier Wochen im Alter von 98 Jahren starb. Auf ihrem Arm konnte man noch ihre Häftlingsnummer sehen. Als Zehnjährige konnte ich nicht begreifen, was ihre Geschichte eigentlich bedeutete.
In Bonn begann ich, die deutsche Geschichte auf eine ganz andere Weise zu verarbeiten. Obwohl ich damals noch nicht einmal geboren war, fühlte ich mich zunächst zutiefst verantwortlich für die Verbrechen, die Nazi-Deutschland begangen hatte. Als ich ein wenig in meiner Familiengeschichte forschte, fand ich heraus, dass niemand wirklich Teil des Regimes war. Mein Urgroßvater hatte sogar Schwierigkeiten, weil er den Hitlergruß nicht machen wollte. Heute denke ich, dass die Geschichte eines Landes im Großen und Ganzen ähnlich zu den Geschichten von Einzelpersonen ist. Es gibt dunkle Zeiten und die Vergangenheit lässt sich nicht ändern. Was wir jedoch ändern können, ist die Art und Weise, wie wir in der Gegenwart mit Vergangenem umgehen. Nutzt man dies als Grundlage, hat so Deutschland eine großartige Arbeit geleistet. Aufseher, die in Konzentrationslagern gearbeitet haben, wurden noch Jahrzehnte später strafrechtlich verfolgt, wenn neue Informationen auftauchten. Die Art und Weise, wie Deutschland mit seiner Geschichte umging und immer noch umgeht, ist bei weitem nicht perfekt, allerdings wird Verantwortung übernommen. Diese Verantwortung ist etwas, das ich als Teil des Deutschseins betrachte. Dennoch waren positive Aspekte der deutschen nationalen Identität für mich zunächst nur schwer auszumachen.
Nach einem Zwischenstopp in Jena, wo ich eine weitere Freundin besuchte, trampte ich nach Berlin. Mein Couchsurfer in Berlin hatte mir abgesagt. Das Leben in der deutschen Hauptstadt war ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Am ersten Abend wartete ich auf jemanden bei einer Veranstaltung. Mein Besuch fiel in die Zeit der Fußball-Europameisterschaft. Die Stadt war furchtbar überfüllt, überall gab es Public Viewing-Plätze. Ich stand da mit meinem Rucksack und sah aus wie bestellt und nicht abgeholt. Mehrere Leute kamen zu mir und boten Hilfe an, z.B. einen eine Unterkunft oder ein kostenloses Frühstück. Das hat mich in einem sehr positiven Sinne überwältigt. Am nächsten Tag lieh mir eine andere Couchsurferin ihr ÖPNV-Ticket. Ich erkundete viele Orte, die ich schon immer mal sehen wollte:
- Die Eastside Gallery ist das längste erhaltene Stück der Berliner Mauer. Es ist 1,3 km lang und zeigt Graffiti von vielen verschiedenen Künstlern.
- Der Reichstag, in dem der Deutsche Bundestag untergebracht ist.
- Das Brandenburger Tor – einst ein Tor zu Berlin, das später die Trennung zwischen West und Ost markierte. Heute symbolisiert es eher die Einheit Deutschlands.
- Die Siegessäule, die an die Einigungskriege erinnert.
Ich erkundete noch viele weitere Orte und wurde wieder mit der deutschen Geschichte konfrontiert, mit Kriegen in der Vergangenheit, und auch mit dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Zusätzlich wurde ich fast überall mit feiernden und lautern Fußballfans konfrontiert. Am nächsten Tag erkundete ich die Museumsinsel, auf der sich das Alte Museum, das Neue Museum, die Alte Nationalgalerie, das Bode-Museum und das Pergamonmuseum befinden. Das letzte Museum hat mich schockiert, weil es viele sehr große Originalexponate beherbergt, wie das Ischtar-Tor und die Prozessionsstraße von Babylon. Es tut ehrlich gesagt richtig weh zu sehen, dass diese Bauwerke von ihren ursprünglichen Plätzen weggenommen und in ein weit entferntes Museum gestellt wurden. Aber genug von diesem kleinen Umweg.
Während meiner Zeit in Berlin wurde mir folgendes klar:
Nationale Identität ist nichts, was einen definiert oder einschränkt. Sie ist kein Rezept, in das der Einzelne passen muss. Das heißt, es gibt keine eindeutigen Regeln, die einen Deutschen zum Deutschen machen. Um ein Deutscher zu sein, muss man nicht Fußball lieben, Socken in Sandalen tragen, ständig Bier trinken, eine Versicherung für alles haben, Wurst essen, Regeln und Vorschriften lieben[2]Während der Flüchtlingskrise hatte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel einige Fragen zum Brandschutz in Flüchtlingszelten., Autos lieben oder wie ein Verrückter auf der Autobahn fahren[3]Es gibt Stellen ohne Tempolimit, aber ernsthaft, man muss dort nicht 250km/h fahren..
Wenn man aber wie ich gutes Brot liebt, Mülltrennung für wichtig hält, Kartoffeln mag oder Wert auf Nachhaltigkeit legt, dann sind das schon deutsche Züge. Und ja, ich gebe es zu: Ich schaue auch gerne Tatort, auch ich nicht alle Teams so wirklich gut finde. Aber um das wirklich zu begreifen, musste ich Deutschland für eine Weile verlassen. Eine Weltreise von neun Monaten reichte dafür nicht. Ich musste in drei verschiedenen Ländern leben, einige Sprachen lernen und einen Mann aus einem Land mit einer starken nationalen Identität heiraten.
Als ich vor zehn Jahren dann am Flughafen in Berlin wartete, war ich sehr nervös, weil ich zum ersten Mal die Europäische Union verließ[4]ich war schon einmal im Vereinigten Königreich, aber das war lange vor dem Brexit. Nach einem vierstündigen Flug kam ich frühmorgens in Moskau an. Mein Freund hatte mich begleitet, was sehr hilfreich war, weil er Russisch konnte und den Kulturschock dadurch ein wenig abfederte. Aber kein noch so gutes Russisch hielt uns von Folgendem ab. Wir stiegen in die U-Bahn, die laut meinem Freund zu unserer Herberge fahren sollte. Ein paar Meter weiter im Tunnel hielt der Zug an und alle Türen öffneten sich. Wir waren die Einzigen in der Bahn. Der Zugführer kam und war ein bisschen überrascht uns zu sehen. Er bat uns, ihm zu folgen, was bedeutete, dass wir auf einer winzigen Brücke neben dem Zug gehen mussten. Fuhr der Zug dorthin, wo wir hinwollten, musste jedoch erst im Tunnel wenden.
Damit möchte ich den heutigen Beitrag beenden. Woher kommst du und was denkst du über nationale Identität? Gibt es ein deutsches Klischee, das du gerne hinzufügen magst?
Don’t Panic!
References
↑1 | Beim Erwerb einer Staatsbürgerschaft wird dies häufig durch Sprachkenntnisse und ein Einbürgerungstest versucht. Dies dient jedoch dazu, ein gemeinsames Verständnis bestimmter Informationen zu gewährleisten. |
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↑2 | Während der Flüchtlingskrise hatte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel einige Fragen zum Brandschutz in Flüchtlingszelten. |
↑3 | Es gibt Stellen ohne Tempolimit, aber ernsthaft, man muss dort nicht 250km/h fahren. |
↑4 | ich war schon einmal im Vereinigten Königreich, aber das war lange vor dem Brexit |