#1 58 Leistungspunkte und das Jagen nach dem Glück
In meinem letzten Beitrag schrieb ich über meinen persönlichen Kampf mit dem Bloggen, Identität und Erwartungen. Auf dem Rückweg von Deutschland nach Großbritannien vor ein paar Tagen verbrachte ich einige Zeit damit darüber nachzudenken, worüber ich in Zukunft dann so bloggen möchte ohne Druck etwas „liefern“ zu müssen. Das war gar nicht so einfach. Wusstest du, dass ich einst einen Podcast hatte? Ich vermute nicht, denn ich habe ihn trotz großer Freude bereits nach wenigen Folgen eingestampft. Die Episodenskripte habe ich jedoch aufgehoben und möchte sie nun nutzen, um eine „kleine“ Geschichte zu erzählen, die ich A Backpacker’s Tale[1]So nannte ich vor zwei Jahren meinen Podcast, bin jedoch immer noch auf der Suche nach einem besseren Namen. Falls du eine Idee hast, her damit! nenne. A Backpacker’s Tale ist Teil meiner Geschichte davon, wie ich zum Reisen kam und wie es mich verändert hat. Es geht aber nicht alleinig um’s Reisen, sondern um meinen gesamten Werdegang. Um dem Anfang zu machen, müssen wir etwa zehn Jahre in die Vergangenheit reisen. Also… Los geht’s.
Tick, tick, tick… Stellt euch den lauten Sekundenzeiger einer Uhr vor Tick, tick, tick… Ein solcher Sekundenzeiger kann je nach Situation überraschend drängend sein, fast so als würde eine Hand[2]Auf englisch heißt Uhrzeiger sogar „hand“, also buchstäblich die Hand, die einen „schlägt“. einem auf den Rücken schlagen, während jemand ruft: „Mach, mach, mach!“ Egal, was man tut, egal, was man denkt – es tickt bzw. schlägt immer weiter. Oft fragte ich mich „warum die Uhren in Universitätshörsälen eigentlich immer so verdammt laut sind?“ Fast so, als hätte jemand sie gezielt genauso gebaut, um Studenten zu zeigen, wie ihre Zeit verrinnt. Irgendwie absurd.
Während einer Klausur waren mir laute Uhrzeiger sehr präsent. Die Gesamtsituation einer Klausur ist für mich doch irgendwie unwirklich: In kürzester Zeit quetschte ich mir einen Haufen Wissen in den Schädel, nur um es dann in einer 90-minütigen Farce zu Papier zu bringen. Die „Waffe“ meiner Wahl[3]Eigentlich hat man bei Klausuren gar keine Wahl, was den Stift angeht, weil sowohl Farben als auch Stiftart vorgeschrieben sind.: Stift und Geodreieck.
Klausuren waren nämlich ein Kampf – nicht nur gegen die Klausur selbst, sondern auch gegen den Prüfer und vor allem jedoch gegen die Zeit. Tick, tick, tick. Ein Kommilitone nannte es einst “Rechenschlacht”, wobei ich zum Glück nicht in allen Klausuren rechnen musste. Wie diese Schlacht jedoch meine erworbenen Fähigkeiten bestimmte, wirft mir bis heute Rätsel[4]Heute bin ich als Prüfer auf der anderen Seite, was der bei Aufklärung des Rätsels jedoch bisher nicht gänzlich half. auf, welche jetzt allerdings nicht unser Thema sein sollen. Wie ihr euch wahrscheinlich bereits denken konntet: Damals -vor ca. 10 Jahren- war ich Studentin. Ich war im vorletzten Semester und studierte Bachelor of Science in einer Fachkombination aus Informatik und Mathematik.
Die Prüfungszeiträume waren häufig stressig. War die eine Klausur vorbei, begann direkt das Lernen für die nächste. Ich hatte mir für das besagte Semester ein gigantisches Ziel gesetzt: 58 Leistungspunkte. Pro bestandener Veranstaltung erhalten Studenten eine bestimmte Menge an Leistungspunkte. Als Referenz: 30 Punkte sind die angedachte Menge für ein Semester[5]Wenn du etwas mehr darüber lesen möchtest, verweise ich auf die offiziellen Informationen über das European Credit Transfer and Accumulation System (ECTS), letzter Zugriff 12. Nov. 2021. Ein Leistungspunkt soll dabei etwa 30 Stunden Arbeit entsprechen. Wenn wir das jetzt mal ausrechnen, entsprechen 58 Punkte 1.740 Stunden Arbeit. Bei acht Stunden Arbeit pro Tag und sieben Tagen pro Woche, wären dies 31 Wochen; also mehr als ein Semester. Ich muss vermutlich nicht erwähnen, dass es nicht ganz optimal ist, jeden Tag durch zu arbeiten[6]Eine WHO-Studie von 2021 zeigte beispielsweise, dass mehr als 55 Stunden Arbeit pro Woche das Schlaganfallrisiko um 35% erhöhen verglichen mit der 35-40-Stunden-Woche.. Bereits in der Vorlesungszeit hatte ich zwölf Punkte erarbeitet und dachte, mein Plan sei perfekt, um andere Semester auszugleichen, in denen ich aus verschiedensten Gründen weniger als 30 Punkte erarbeiten konnte.
Egal, wie ich heute über Klausuren oder Leistungspunkte denke, damals nutze ich sie als Planungs- und Evaluationsgrundlage für mein gesamtes Leben. Sie waren für mich zusammen mit meinen Zensuren eine Maßeinheit für meinen Erfolg. Allerdings handelte es sich hierbei um Maßeinheiten, die ich selbst wenig beeinflussen und kontrollieren konnte, auch wenn ich den ganzen Tag lernte.
Ich schaffte es alle Prüfungen zu bestehen und erarbeitete die 58 Leistungspunkte. Damals war das ein Rekord unter Studenten. Doch so wahnsinnig stolz ich darauf war, so leer war ich auch. Um euch ein wenig Kontext zu geben: Ich hatte neben dem Studium mehrere Jobs, machte Sport, Musik und arbeitete ehrenamtlich in einem Sportverein für Kinder. Ich hatte eine schöne Wohnung – auch wenn sie winzig war, sie gehörte mir allein. Meine erste eigene Bude sozusagen. Finanzielle Sorgen hatte ich keine. Ich weiß gar nicht mehr so recht, wie ich das alles schaffte. Wahrscheinlich, indem ich meinen Kalender mit Terminen zupflasterte.
Damals war ich der Meinung, mich endlich an die Uni gewöhnt zu haben, auch wenn mein Bachelorabschluss nicht mehr weit war. Besser spät als nie. Ich dachte, wenn ich dann noch einen ausgezeichneten Masterabschluss draufsetzen könnte, dann und nur dann könnte ich endlich stolz auf mich selbst sein. All der Stress, all die Kämpfe, die ich hatte, als ich mit dem Studium begann, die wären es endlich wert gewesen. Ziele vor Augen zu haben, hört sich gar nicht schlecht an, oder? Warum war genau das also ein Problem für mich? Anstatt mich so zu akzeptieren, wie ich war, jagte ich einem „Glück“ hinterher, das ich erst in der Zukunft „leben“ sollte. Ich führte viele Wenns in mein Leben ein, die ich erfüllen musste, doch sobald jedoch ein Wenn erfüllt war, kam gleich das nächste und dann noch eins und noch eins[7]Zu dieser Thematik gibt es einen sehr guten Blogbeitrag von Mark Manson, der ein Auszug aus seinem Buch „The subtle art of not giving a f*ck“ ist.. Heute -10 Jahre später- muss ich sagen, diese Wenns gibt es in meinem Leben noch immer. Sie loszulassen ist unglaublich schwer und auch wenn viele es nicht gerne hören: Selbstakzeptanz ist ein immer andauernder Prozess. Es wird immer etwas neues geben, was sich als neues Wenn eignen könnte. Doch all die Wenns machen Glück und Akzeptanz von Kriterien abhängig, die man -wie oben erwähnt- mit hoher Wahrscheinlichkeit gar nicht kontrollieren kann. Vielleicht sollte ich diese Thematik lieber einzeln verbloggen?
Zurück zum Hauptthema: Während meines Studiums dachte ich oft, ich sei zu langsam, nicht gut genug oder müsse mehr Leistung erbringen. Irgendwie ironisch, dass die Studiums-Credit-Punkte in Deutschland auch Leistungspunkte genannt werden. Ich brauchte die 58 Leistungspunkte, um Erwartungen endlich gerecht zu werden. Diese Erwartungen kamen rückwirkend betrachtet jedoch gar nicht direkt von mir. Ich dachte, wenn auch unterbewusst, es werde von mir erwartet, auf eine gewisse Art und Weise zu sein. Das Erbringen von Leistung und Positiv-Denken waren Teile dieser Wahrnehmung. Andere Studenten schienen immer so viel zu leisten und dabei so positiv drauf zu sein. Oft fragte ich mich, wie sie das nur schafften? Letztens Endes zog ich dadurch viele unfaire Vergleiche[8]Frühe Forschung aus den 50ern zeigte bereits, dass das menschliche Gehirn „verdrahtet“ ist, um Vergleiche zu begünstigen: https://doi.org/10/bg7388. Von der Leistung, die jemand erbringt, ist es jedoch sehr schwer oder gar unmöglich Schlüsse auf dessen Gesamtsituation zu ziehen. Vermutlich ging es vielen anderen Studenten sogar ähnlich wie mir[9]Mein Jahrgang war wie Jahrgänge zuvor betroffen von der Bologna-Reform, welche die Umstellung vom deutschen Diplom zum Bachelor-Master-System einleitete. Leider war dieser Übergang nicht ganz … Continue reading.
Ich konzentrierte mich so sehr auf meinen persönlichen Erfolg und das, was ich in der Zukunft erreichen wollte, dass ich mich in der Gegenwart vernachlässigte. Der Preis dafür waren Energielosigkeit… und Leere… Ich fühlte mich wie ein Roboter, der funktionieren muss, egal was passiert: Ich stand auf, lernte, arbeitete, schlief, stand auf, lernte, arbeitete… Alles wurde irgendwie trüb und grau und machte immer weniger Spaß. Auch, wenn ich wollte, ich konnte nur wenig genießen. Ich dachte, das würde gewiss wieder kommen, wenn ich nur allen Erwartungen gerecht werden würde und diese „Übergangszeit“ ausgestanden ist. Dadurch baute ich eine meterdicke Schutzschicht auf und ließ nichts und niemanden mehr so richtig an mich heran – mich selbst auch nicht. Es ist so als hätte ich versucht alle dunklen Flecken und all das Schlechte aus meinem Leben zu entfernen oder mich davor zu schützen, dabei habe ich jedoch das komplette Licht ausgeknipst. Nichts blieb.
An diesem Punkt in meinem Leben steckte ich völlig in einem Alltag fest, der falschen Erwartungen folgte. Ich dachte, ich würde das einzig Richtige tun und starrte durch einen Tunnel auf die Zukunft. Ich erzähle euch das, weil diese Ausgangssituation damals die Grundlage für einen wenig später sehr tiefen Wunsch war. Ein Wunsch, loszulassen und mich zu befreien, ein Wunsch ich zu sein, auch wenn ich nicht genau sagen konnte, was das im Detail bedeutete. Denn ganz ehrlich, all die Leistungen, Ziele und diese spezielle Karriere fühlten sich nie gänzlich richtig an. Eine Verkettung einiger kleiner, aber wichtiger und Ereignisse half mir schließlich, meinen Kopf für einen Moment frei zu bekommen, um eine schwierige und enorm wichtige Entscheidung zu treffen: Die Entscheidung, dass ich alles (und jeden) hinter mir lassen und alleine reisen werde.
Vielleicht geht es dem/der ein oder anderen von euch da draußen ähnlich: Ihr fühlt euch gefangen in eurem (stressigen) Alltag und lasst nichts und niemanden wirklich an euch heran, noch nicht einmal euch selbst. Die immer prall gefüllte Todo-Liste wird mit Scheuklappen abgearbeitet, weil man denkt, dass man es genauso tun muss. Ich sah damals keinen Ausweg außer einfach stur weiter zu machen. Ich war vollkommen blind für andere Wege, weil ich dachte, dass es nun mal so ist und nicht anders geht. Ich hab nicht wirklich nachgedacht, hatte scheinrationale Argumente, die meinen eingeschlagenen Weg auf Biegen und Brechen bekräftigten, und habe nichts hinterfragt. Wenn ich es hinterfragt hätte, so hätte dies mit hoher Wahrscheinlichkeit negative Gefühle ausgelöst und auch diesen wollte ich durch viel Arbeit, eine volle Todo-Liste und Beschäftigtsein entkommen. Ich hatte gar nicht die Zeit dazu zu reflektieren, weil ich mir sie niemals nahm und auch nicht nehmen wollte. Sogar abends vor dem Einschlafen hörte ich oft Hörspiele, um über ja nichts nachzudenken.
Um diesem Artikel zu abschzuschließen, möchte ich ein bisschen ausholen. Es mag auf den ersten Blick vielleicht seltsam erscheinen, aber ich bitte euch mir einen Moment zu vertrauen: Ihr kennt wahrscheinlich das Yin-Yang-Symbol. Aber Alise, wirst du jetzt völlig verrückt und esoterisch? Danke für die Nachfrage. Nein, das ist (hoffentlich) nicht der Fall. Das Symbol besteht aus zwei Hälften, die sich zu einem Ganzen ergänzen: dunkel und hell, gut und böse und so weiter. Ich fand das Symbol immer ziemlich dumm muss ich sagen und langweilig. Und ihr fragt euch, was hat das jetzt mit Alises zehn Jahre altem Unistress zu tun? Vor kurzem, wurde mir klar, dass das Symbol auch Wandel und Veränderungen symbolisiert und somit nicht statisch ist[10]Mein Dank geht hier an Thomas Pfitzer und Tim Schlenzig, die einen Blogartikel auf mymonk.de dazu veröffentlicht haben.. Die Punkte zeigen eine Art Veränderung an und beide Hälften jagen irgendwie einander. Das bedeutet, der weiße Punkt im Schwarzem ist der Start das Schwarze ins Weiße umzukehren und umgekehrt. Damals war für mich eine sehr dunkle Zeit, obwohl ich zu blind und zu abgeschirmt war, um das zu erkennen. Aber es gab eine wie im schwarzen Teil des Symbols auch, einen hellen Teil, der dabei war sich auszudehnen. Wenn es euch so geht, wie mir damals, möchte ich euch gerne zeigen, dass es auch anders geht. Ich muss aber auch sagen, dass ich nicht glaube, dass es im Leben immer nur Wachstum und Aufstieg geben kann. Es ist unmöglich, dass es immer toller und positiver Friede-Freude-Eierkuchen ist. Es ist wie im Yin-Yang-Symbol: ein stetiger Wechsel. Wie eine Sinus-Kurve, wenn auch nicht ganz so regelmäßig. Ich denke wir können dunkle Zeiten nicht aus unserem Leben eliminieren. Was wir jedoch können, ist ändern wie wir damit umgehen, welche Erwartungen wir haben bzw. ob wir überhaupt welche haben. Dafür brauchen wir aber Zeit: Zeit mit uns selbst, Zeit zum Nachdenken. Das kann wie in meinem Extremfall eine Reise sein, ein abendlicher Spaziergang ist jedoch bereits ein Anfang. Er ist sogar viel besser als eine Reise, weil er sich einfacher in den Alltag integrieren lässt. Ich nehme mir fast jeden Tag Zeit dafür.
Jetzt sind wir am Ende dieses Beitrags angelangt. Heute haben wir über meine Ausgangssituation „gesprochen“, über Missverständnisse und Erwartungen, die ich damals hatte. Nächstes Mal möchte ich darüber schreiben, wie ich aus dieser Situation ausgebrochen bin, was letztendlich mein Leben durcheinander gewirbelt hat und was ich daraus lernte.
Ich hoffe, dass du mit dem Beitrag etwas anfangen konntest, auch wenn sein Inhalt eher „negativ“ war. Vielen Dank für deine Zeit. Ich denke, es ist wichtig, immer wieder einen Blick auf dunklere Zeiten zu werfen, um eine bessere Vorstellung vom Gesamtbild zu bekommen. Ich möchte diesen Beitrag mit zwei (oder drei?) Wörtern beenden, die mir sehr viel bedeuten: Don’t panic!
References
↑1 | So nannte ich vor zwei Jahren meinen Podcast, bin jedoch immer noch auf der Suche nach einem besseren Namen. Falls du eine Idee hast, her damit! |
---|---|
↑2 | Auf englisch heißt Uhrzeiger sogar „hand“, also buchstäblich die Hand, die einen „schlägt“. |
↑3 | Eigentlich hat man bei Klausuren gar keine Wahl, was den Stift angeht, weil sowohl Farben als auch Stiftart vorgeschrieben sind. |
↑4 | Heute bin ich als Prüfer auf der anderen Seite, was der bei Aufklärung des Rätsels jedoch bisher nicht gänzlich half. |
↑5 | Wenn du etwas mehr darüber lesen möchtest, verweise ich auf die offiziellen Informationen über das European Credit Transfer and Accumulation System (ECTS), letzter Zugriff 12. Nov. 2021 |
↑6 | Eine WHO-Studie von 2021 zeigte beispielsweise, dass mehr als 55 Stunden Arbeit pro Woche das Schlaganfallrisiko um 35% erhöhen verglichen mit der 35-40-Stunden-Woche. |
↑7 | Zu dieser Thematik gibt es einen sehr guten Blogbeitrag von Mark Manson, der ein Auszug aus seinem Buch „The subtle art of not giving a f*ck“ ist. |
↑8 | Frühe Forschung aus den 50ern zeigte bereits, dass das menschliche Gehirn „verdrahtet“ ist, um Vergleiche zu begünstigen: https://doi.org/10/bg7388 |
↑9 | Mein Jahrgang war wie Jahrgänge zuvor betroffen von der Bologna-Reform, welche die Umstellung vom deutschen Diplom zum Bachelor-Master-System einleitete. Leider war dieser Übergang nicht ganz reibungsfrei, weil plötzlich die Klausuren des Vordiploms Teil des Bachelors waren. Das bedeutet, dass die Zensuren nun nicht mehr lediglich zum Bestehen eines Vordiploms, welches nie wieder angeschaut wird, notwendig waren, sondern in den Abschlusszeugnissen von Studenten standen und über deren Zukunft entschieden. Bis dies jedoch im System wirklich ankam, gab es einige Jahrgänge, die mit extremst schweren Siebeklausuren und schlechten Zensuren kämpfen mussten. |
↑10 | Mein Dank geht hier an Thomas Pfitzer und Tim Schlenzig, die einen Blogartikel auf mymonk.de dazu veröffentlicht haben. |